CRESCENT NIGHT (2022, Original: ADH CHANANI RAAT) ist der neue Film von Gurvinder Singh, der auf einem Punjabi-Roman von Gurdial Singh basiert und beim internationalen Filmfestival in Rotterdam lief. Schon seine vorangegangenen Punjabi-Werke ANHE GHORE DA DAAN (auf Mubi verfügbar) und CHAUTHI KOOT feierten Premiere in Venedig und Cannes. In Münster wird er nun dem Publikum von Litfilms und Chalo India vorgestellt, als Abschlussfilm der indischen Filmtage am 25.9.2022. Eine Inhaltsangabe findet man im Festival-Programm und hier teilen wir einen Auszug aus einem Interview zu CRESCENT NIGHT im ISHQ Magazin.
Wann haben Sie die Werke von Gurdial Singh entdeckt und was hat Ihnen daran gefallen?
Als Punjabi suchte ich einen Autor, der sich mit regionalen Themen auskennt und in dieser Sprache schreibt. Da ich bereits nach den Romanen von Gurdial Singh gedreht hatte, wollte ich unbedingt meine Trilogie basierend auf seinen Werken vervollständigen. Mein erster Film befasste sich mit den Nöten der unteren Kaste im Punjab.
Im zweiten ging es um Politik, Religion und Nationalismus sowie deren Einfluss auf ganz normale Menschen. Und nun wollte ich mit dem dritten Film das Gesamtbild des Punjabs vervollständigen. Die Menschen im Punjab sind im Grunde eine Agrargesellschaft und dieser Film handelt es von der Klasse, die das Land verliert, vom Stolz und Ego der Menschen, die ihren Besitz und ihr Land schützen wollen. Als ich die Romane von Gurdial Singh las, hatte ich Mitleid mit jemandem, der einen Mord begangen hat. Ursprünglich war er ein sanfter und gutmütiger Mensch. Doch er wurde in eine Situation gedrängt, in der er die Demütigung seines Vaters rächen und den Verbrecher töten musste. Wenn ich jetzt an die Werke von Gurdial Singh denke, habe ich das Gefühl, dass gute Literatur nie an Relevanz verliert.
Können wir über die Produktion sprechen? Wie haben Sie die Idee entwickelt?
Nun, mir ist sehr wohl bewusst, mit welchem Budget ich meine Filme drehen kann und wie sie aufgenommen werden. Deshalb muss ich mich in entsprechenden finanziellen Rahmen bewegen. Trotzdem liegen mir meine Themen am Herzen und ich möchte in meiner Nische bleiben, auch wenn das Herausforderungen mit sich bringt. Vieles läuft bei mir anders als man es üblicherweise von Filmemachern kennt. Beispielsweise mag ich keine Proben, sondern fange gleich mit dem Drehen an. Meine Schauspieler wähle ich aus den Menschen meines Umfeldes. Dabei ist es völlig egal, ob sie professionell ausgebildet sind oder nicht. Ein Vorsprechen findet bei mir sozusagen im wirklichen Leben statt. Ich sehe die Leute und kann einschätzen, wozu sie fähig sind.
Die Ehefrau des Protagonisten wird von Mauli Singh gespielt, die eigentlich eine PR-Agentin und Produzentin ist. Aber sie studierte auch Theaterwissenschaften und hat bereits auf der Bühne gespielt. Damals rief ich sie an und sagte: „Ich möchte dich in mein Projekt einladen. Die Entscheidung ist endgültig, also spar mir die Zeit und nimmt die Herausforderung an“. Ihre Protagonistin ist eine Frau – geschieden und mit einem Kind – die ihr Leben gerade neu beginnt. Irgendwie habe ich dasselbe für Mauli als Person empfunden. Jatinder Mauhar, der Modan spielt, ist ein Filmregisseur, der bereits drei Filme auf Punjabi gedreht hat. Ich kenne ihn sehr gut als Person. Für mich kann er gleichsam die Gefühle von Sanftheit und Wut in sich tragen. Eines Tages sagte ich ihm: „Ich mag dein Gesicht, du bist perfekt für diese Rolle“. Nach unserem Dreh hat er sein schauspielerisches Talent entdeckt und will jetzt in seinen eigenen Filmen spielen. Ich hatte immer diese Idee, dass nicht ich als Regisseur die Schauspieler führe, sondern jeder von ihnen sein eigener Regisseur ist. Ich helfe ihnen nur, einige Dinge auszudrücken. Sonst spielen sie auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen aus der Vergangenheit oder wie sie die Situation verstehen.
Wie gut kennen Sie das Leben in einem Punjabi-Dorf? Der Roman von Singh spielt in den 1970er-Jahren. Können Sie bestätigen, dass immer noch die gleichen Probleme bestehen oder sind es mittlerweile andere?
Haben Sie von den Dili-Chalo-Bauernprotesten in den Jahren 2020 und 21 gehört? Tausende Punjabi-Landwirte sind bis zum Stadtrand von Delhi gegangen, um gegen Gesetze, die die Landwirtschaft betreffen, zu demonstrieren. Das war der größte Protest dieser Bevölkerungsgruppe in der indischen Geschichte. Schließlich musste die Regierung ihre Entscheidungen überdenken. In den 1960er und 1970er Jahren war die Produktion nicht so groß und erfolgte meistens auf natürliche Weise. Dann kamen neue Anbaumethoden und vor allem Düngemittel chemischer Herkunft hinzu. Durch die Verwendung der Chemikalien wurden viele Schäden verursacht, unter anderem auch Krankheiten in dieser Bevölkerungsgruppe. In den 1980er- und 90er-Jahren gab es die größte Migrationswellen der Landwirte Richtung Westen.
Viele von ihnen ließen ihr Land zurück und gingen nach Kanada oder Australien. Ihre Kinder haben gesehen, wie hart das Leben ihrer Väter war und wollten natürlich auch nicht mehr zurück. Sie verpachteten das Land an andere, blieben selbst im Westen und investierten in die indische Landwirtschaft. Ich habe die Situation sowie die Proteste verfolgt und einen Dokumentarfilm darüber gedreht. Der befindet sich gerade noch in der Postproduktion.
In Ihrem Statement zum Film sprechen Sie vom „letzten verzweifelten Widerstand der Unterdrückten“. Macht dieser Widerstand überhaupt Sinn?
Ich denke schon. Man muss Alles in einem größeren Zusammenhang sehen. Im Film sehen wir eine Familie, die mehr Land hat und andere Familien mit weniger Land unterdrückt. Aber diese Familie kommt auch nicht aus diesem Teufelskreis heraus und rächt sich an anderen, die noch weniger Besitz haben oder gar keinen. Also wollte ich über die Idee der Unterdrückung sprechen und wie wir auf Ungerechtigkeit reagieren. Vielleicht macht es keinen Sinn, Widerstand zu leisten, weil die Konsequenzen im Voraus bekannt sind, aber man will ihn mit vollem Bewusstsein riskieren. Das Gesetz gibt uns oft keine Gerechtigkeit, also nehmen die Menschen diese selbst in die Hand. Ich strebe nicht danach, eine universelle Lösung zu bieten oder anderen Instruktionen zu geben, wie sie sich in dieser Situation verhalten sollen. Meine Idee ist es nur, die Reaktion des Protagonisten zu zeigen, ohne ihn zu beurteilen.
Was steht für Sie als Nächstes an?
Die Trilogie ist fertig. Sie basiert auf dem Werk eines anderen und jetzt will ich meine eigenen Geschichten erzählen. Ich habe bereits mehrere im Kopf, aber ich weiß noch nicht, welche ich zuerst auswählen werde. Ich will mir keinen Druck machen, da ich gleichzeitig an vielen anderen Projekten arbeite. Im Moment drehe ich drei Dokumentarfilme. Im Vergleich zu einem Spielfilm empfinde ich einen Dokumentarfilm als nette Abwechslung und ehrlich gesagt, als wahre Kunst. Bei einem Spielfilm arbeitet man im Team. Dokumentarfilme dreht man alleine oder mit einem sehr kleinen Team. Deshalb kann ich mich hier nur auf mich selbst verlassen und für alles Verantwortung übernehmen.
Das Interview wurde geführt von Tatiana Rosenstein